Er - Jenseitsmythos der Gerechtigkeit


Er-Mythos der Politeia - Text


Gerechtigkeit und Ananke – der die Politeia abschließende Jenseitsmythos

1.

Die Erzählung, durch die der Er aus dem Jenseits als richtendem Ende und Wendeort des gelebten Lebens Kunde bringt, schließt zum Ende des 10. Buches die Politeia im ganzen ab. Sie nimmt die Bestimmung in der Beurteilung von Gerechtigkeit als in ihrer Maßgeblichkeit zu achtende und zu würdigende auf und hatte sie in ihrer Idee als Bedingung schon jeder Maßannahme zu erkennen gegeben, ohne die wir nicht beurteilend uns verhalten könnten. Wie uns der gesamte Bildungsgang schon vom Trasymachosdialog gelehrt hat, geht unabdingbar in die Bestimmungsversuche, was Gerechtigkeit sei, ihre Achtung im Grund und Maßverhältnis der Vermögen unserer Seele im ganzen und ihrer Zusammenstimmung ein: daß ein jedes das Seine zu tun vermöge, wie es in einem frühen Bücher der Politeia (IV) heißt.

Auf die Grundhaltungen des Lebens und ihrer Würdigung war die schon im zweiten Buch thematische Frage bezogen, ob und inwieweit es besser sei, gerecht zu sein als ungerecht. Die Fähigkeit von Vernunft und Urteilskraft, dies mit Besonnenheit zu entscheiden, geht in ihrer Bildung selbst ein in das Gewürdigtwerdenkönnen nach dem Maß der Gerechtigkeit selbst. Dieses Maß wird nun dem Beurteilenden gegenüber dort zur Geltung gebracht, wo er selbst sein Lebensgestaltung im Lichte der sie leitenden Beurteilungsmaßstäbe zu verantworten hat – und dies ist das ein Leben im ganzen seiner Führung in den Blick nehmende Selbstbeurteilung, in der er zugleich im Vergleich steht mit den beurteilungsbedingten Lebensentwürfen insgesamt und überhaupt. Ohne den Vergleich mit überhaupt möglichen aber nur exemplarisch je denkbaren andren Lebensentwürfen, kann der eigen nicht beurteilt werden; aber in dieser Selbstbeurteilung wird auch immer die Entscheidung gefällt und reflektiert, ob ich sie wählen und vorziehen würde. insofern gehört die Wahl der Lebensmuster nach der Rückkehr aus den Lohn und Strafexpeditionen in Himmel und Unterwelt der Erde notwendig zu der Pflicht und dem Vermögen der Beurteilung des eigenen Lebens im ganzen (als eines eigenen). Deren denkbare Anzahl ist in jedem Fall höher als die tatsächlich schon gelebten Weisen, als beseeltes Individuum in eigener Haltungs- und Führungsverantwortung gelebt zu haben.

618a „habe er die Umrisse der Lebensweisen (ton bion paradeigmata) vor ihnen auf dem Boden ausgebreitet in weit größerer Anzahl als die der Anwesenden.“

Die vorgelegten Lebensbeispiele haben darin selbst eine vorbildheischende Charakteristik: als zu wählende bergen sie Maß und Anreiz, Führungsgestalt zu sein, ihnen zu folgen, nach ihrem Muster zu leben.

Das Jenseitsgericht aller Seelen hat der Realität nach ausschließlich Bedeutung für die – mit dem Bild des Gerichts und der Besonnenheit erfordernden Wahl – auf das je eigene Gewissen bezogene Selbstbeurteilung, die mit der Vorzugsentscheidung aber eingeht in die Vorbildfunktion der Lebensgestalt. Es hat darum, wie von den Schlußworten später ganz deutlcih wird, die Erzählung Anteil am Bildungsprozess dort, wo dessen Bewußtseinsbildung in der Weisheit diese mit der Gerechtigkeit in der Besonnenheit vereint und die Seele nötigt, sich ans Ende ihres Lebens zu stellen, zurückblickend auf ein Ganzes, das sowohl von der Grundhaltung (in der Scheidung von Gerechten und Ungerechten (614 c) als von den einzelnen Taten her (615) beurteilt und ihm Maß einer Vergeltung steht, eines Buße Zahlens.

daß sie jeder für alles, was sie jemals und wenn immer Ungerechtes getan, einzeln hätten Strafe geben müssen, zehnmal für jedes, nämlich immer wieder nach hundert Jahren, als welches die Länge des menschlichen Lebens sei, damit sie so zehnfach die Buße für das Unrecht ablösten.  615a/b

Wie uns der lapidare Hinweis in Erinnerung ruft, hat mit der Tugend auch die Gerechtigkeit keinen Herrn über sich.

Die Tugend ist herrenlos, von welcher, je nachdem jeglicher sie ehrt oder geringschätzt, er auch mehr oder minder haben wird. Die Schuld ist des Wählenden; Gott ist schuldlos. 617e

Ist die Rede nicht einer Tochter der Notwendigkeit würdig? Sie spricht nur das Notwendigste; selbst denken müssen wir. Also: Die Tugenden sind als Gerechtigkeit, Weisheit, Güte in Vollkommenheit dem Göttlichen zuzusprechen: dem Gotte. Als herrenlos (ohne Despoten, wie in der Seele die Begierden) vermögen sie selbst nicht unter einer Rechenschaftspflicht durch andere als sie selbst zu stehen. Ihr logon didonai ist ihre Ordnung und Einstimmung im Rechten als das Maß in der Maßgabe erhaltend: wer es verfehlt, der allein trägt Schuld, nicht das Maß – darum nicht der Gott.

Es gibt so auch keine höheren Zwecke als die Tugendvermögen, sie sind keine Mittel zum Zweck (siehe Buch II). Doch muß sich, um überhaupt Maß in der Beurteilung eines gelebten und irdisch wiederum zu leben möglichen Lebens sein zu können, die Gerechtigkeit nach ihrer Idee mit den Notwendigkeiten verbinden, die das Irdische des Lebens durchziehen, bewegt bewegend. Darum stellt sich die Idee, gerade dort, wo sie uns als des Erdenlebens gedenkenden Seelen zum Maß wird, eines Eingedenkens, ohne das die Seelen keine Eigenheit, keine Individualität, keinen Ort je in Geschichte hätten, nur mit und durch die unter irdisch materiellen Bedingungen ausgeübten Vermögen dar, deren Verbindungen und Zusammenwirkungen sich nur in Erzählungen von Handlungen denken und vorstellen lassen. Eine solche Verbindung von ergänzenden und ineinander sich fügenden Handlungsarten zeichnet sich im Jenseitsweg der Seelen durch den Bericht des kundebringenden Er für unser Gedächtnis aus, in das es dort sich vernehmend einprägt, wo dieses selbst nach den Anwendungsmaßen seiner Urteilskraft sucht – und ohne Beispiel für seine Übung nicht auskommt. Nach den Jenseitsrichtern begegnen die sich auf den Wiesen wieder begegnenden Seligen wie leiderfahrenen Seelen zunächst dem prophetischen Führer und den mit den Sirenen verschwisterte Moiren als Töchter der Notwendigkeit, während das gesamte Gefüge jener Bildwelt des Ganges durch Gericht, Purgatorium und Hölle, die Wiese der Wiederbegegnung von bestraften und erlösten Seelen und den unerlösbaren, deren Wiederaufstiegshoffung als schlimmste aller Strafen mal um mal sich vereitelt, nur der hörend-schauende Er ins zusammenfügend deutende Vernehmen dessen trägt, der es in Wort und Schrift zur Erinnerung für die Leser überträgt.

Als diese meinten eben auszusteigen, nahm die Öffnung sie nicht auf, sondern erhob großes Gebrülle, sooft einer von den so Unheilbaren in der Schlechtigkeit, oder der noch nicht hinreichend Strafe gegeben, versuchen wollte, heraufzusteigen. 615e (...) Und so sei denn, sagte er, nachdem ihnen soviel und mancherlei Furchtbares begegnet, diese Furcht die schlimmste von allen gewesen für jeden, daß, wenn er hinaufsteigen wollte, der Schlund brüllen möchte, und mit der größten Zufriedenheit seien sie dann hinaufgestiegen, wenn er geschwiegen habe. Solcherlei also seien die Büßungen und Strafen, und ebenso die Erquickungen, jenen als Gegenstück entsprechend. 616a/b

Das personale Leben ist nicht vollkommen selbst beherrscht, aber im ganzen selbst zu verantworten.

2.

Die Er-Erzählung steht in noch gut erinnerbarem Zusammenhang mit der Erörterung über die Teilhabe der Dichter als Nachahmer von Künsten (für deren Lob) im 10. Buch; damit steht sie für jene Art von Dichtung, die es uns ermöglicht, das eigene Urteilsvermögen in ihm sich reflektieren und mahnend mitbilden zu lassen, ist Gestalt von Anamnesis der idea, und gibt uns mithin Hinweis zu verstehen, was es heißt, von Ideen sich leiten zu lassen. Die Wiedererinnerung der Ideen muß von der gedächtnisbildenden Erinnerung von beurteilten Handlungserfahrungen begleitet sein, da nur in deren Pareidgmata das Maß der Ideen als Maß der Vermögen sich dort geltend machen kann, wo eine Eigenverantwortung der Vermögensausübung zum Tragen kommt: in den Selbstverhältnissen der lebens- und handlungserfahrenen Seelen als beurteilend beurteilter.

Die Gerechtigkeit muß, um sein zu können, wirksam sein. Dazu reicht aber die richterliche Scheidung von gerechten und ungerechten Seelen nicht aus: sie müsste ein gerecht Machen als ein Ermöglichen des Gerechtwerdens, also die Bildung und Führung des sich selbst berichtigenden Bildungwegs als Macht und Vermögen zu eigen haben. (zum gerecht Machen siehe: 618e die schlechtere, die ungerecht, von der besseren Lebenweises unterscheiden zu können, die gerecht macht: das Gerechtmachen nur mit der Lebensweise in ihrer Beurteiltheit als einer guten und gerecht machend gerechten = Gerechtigkeit mit Güte in Weisheit verbunden wie Gericht und Lehre im Vorbild des höchsten zu lernenden – megista mathemata).

In gewisser Weise vermag allein die gesamte Bildungsarbeit und ihr in der Politeia skizzierter Weg, durch alle Widerstreite und Probleme, Anforderungen und Wendungen hindurch die Idee der Gerechtigkeit, das heißt die Gerechtigkeit selbst als sie selbst so zu wahren, so ihr ihren Ort in der beurteilenden Leitschätzung zu geben und nach ihr im Erkennen des Würdigen sich auszurichten zu können, daß in solches achtende und anerkennende Erkennen ein sich selbst Beurteilen und beurteilen Lassen eingeht, so daß darin auch ein unseren Realisierungs- und Handlungsentscheidungen entsprechendes Gebühren (axia) zur Geltung kommen kann. Das läßt sich aber ohne Rückbeziehung auf ein am Ort des Jenseits in dem nicht als solche erfahrbaren Ende des Lebens mit den Vorstellungen einer sich realisierenden, ganz der Idee selbst verpflichteten Urteilsmacht nicht denken, nicht annehmen. Ohne Jenseitsmythen des Gerichts und seiner Vergeltung keine Maßannahme der Gerechtigkeit für die bildungswirksam zu beurteilende Lebensführung.

Dann aber sind wir konfrontiert mit der Aufgabe, daß in der Gerechtigkeitsmacht als Idee sich eine Notwendigkeit des Vergeltens zur Geltung bringt, ohne die die Verfehlung als Verfehlung gar nicht erkannt werden kann, die aber als solche auch nicht schon gerecht macht. Darum ist das Endgericht kein Ende, keine Abschluß der Ausrichtung der Idee der Gerechtigkeit. Sie braucht Einheit mit Güte und der nur im Leben möglichen Berichtigung. Die Seelen, die dort gerichtlich und dem Richterspruch gemäß geschieden werden – eine Scheidung nach gerecht und ungerecht IN einer jeden Seele erleidend -, ihre Strafe gezahlt, ihren Lohn erhalten haben, sie konnten sich nicht im Jenseits schon berichtigt haben: allein der Er, der Gedächtnis davon hat und Kunde bringt, er gibt ein Bild des Urteilsverhalten gemäß des gelebten Lebens im Lichte von Mahnungen, die ohne die Selbsterfahrung im Lebensgedächtnis gar nicht von den Seelen im Tod gehört und erst genommen werden können.

Darum ist die sich uns stellende Frage nach der Einheit und dem Verhältnis von Gerechtigkeit als Idee und Notwendigkeit, wie sie sich in den Zeitgeschichtsgöttinnen ihrer Töchter ausspinnt, allein von der Funktion und Bedeutung der Erzählung als erzählter und gehörter (was dort gehört und gesehen ward) zu deuten.

Zum Paradigmatischen gehört der Wechsel der Lebensentwürfe im Gegenzug zu dem als leidvoll Erfahrenen, aber doch mit diesem verwandt und davon abhängig, wie sie die mythisch-heroischen Beispiele plastisch werden lassen, aber auch die Beachtung und Bewahrung der Erzählung, des Mythos selbst:

„Und so, o Glaukon, ist dieser Mythos uns erhalten (gerettet) worden und nicht verloren gegangen (denn einer blieb ohne Vergessen und hat Kunde gebracht) und kann auch uns retten, wenn wir durch ihn uns überzeugen lassen (indem wir der Bitte und Mahnung seiner Rede, die Worte der Klotho miterinnernd, entsprechen, unser Gemüt besänftigen und zur Besinnung rufen lassen, bereitwillig folge leistend) auf daß [kai] wir den Lethe Fluß wohl durchschreiten (überbrücken) und die Seele nicht beflecken. Sondern / Aber wenn wir mir folgend, in vertrauensvollem sich Verbinden [nomizontes] der unsterblichen Seele (sich auf die unsterbliche Seele verlassend, diese Sitte bewahrend, sich ihr verbinden, sich ihr anschließen), daß sie vermöge alle Übel zu ertragen wie alles Gute. (das Unsterbliche der Seele selbst als alles Leid und Übel wie alles Glück und Gute Tragende: diese glaubende Einvertrauen der unsterblichen Seele, ist nicht mit einem Satz zu verwechseln, der zum Verstehensinhalt des Glaubens machte, daß die Seele (als Substanz) unsterblich sei. Zu diesem Glauben als Vertrauen in die Seele gehört ein sie im Verhalten zu den Ideen als das Ewige Achten: unsterblich ist Seele, da sie das Ewige von Gerechtigkeit und Güte in den Tugend als höchstes achtet.)  sich immer an den Hinauf-Weg haltend und der Gerechtigkeit mit Besonnenheit (!) auf alle Weise  nachtrachtend, damit wir selbst uns Freund und den Göttern lieb seien, sowohl während wir selbst hier verweilen (bleiben), als auch, wenn wir davontragen den Preis / Lohn (Belohnung im Wettkampf im Verhältnis zur Entscheidung der Lebensführung ) als Sieger (Vorzugsgewählte) allseitig anerkannt, auf daß wir hier wie auf der tausendjährigen Wanderung, die wir gerade (mit)durchschritten haben, wohl tuend (sein können) / seien (wie eine Aufforderung als Beschluß).

Sondern wenn wir mir in der Überzeugung folgend für verbindlich halten die unsterbliche Seele (daß die Seele unsterblich sei – werde) / als unsterblich die Seele für uns [verbindlich] gesetzlich annehmen und [so über die Jahrtausende] als fähig, sowohl alles Schlechte zu ertragen, als auch das Gute (dahinein glauben wir sie) [als fähig alles schlechte wie auch das Gute // alles, schlechtes wie gutes, zu ertragen]: alles, sowohl das Schlechte zu ertragen wie das Gute] werden wir auf dem nach oben Weg immer uns halten [ihn haben, ihn eingeschlagen haben können] und der (nach) Gerechtigkeit mit Bedachtheit auf jede Weise uns befleißigen (trachten – für uns wie für andere), damit wir uns selbst Freund wie den Göttern lieb seien, selbst bleibend hier (gegenwärtig) /selbst verweilend gegenwärtig wie nachdem den Preis (des Wettbewerbs) wie Sieger allherum versammelnd einholen / selbst empfangen ( komizo: bei sich aufnehme, in sich aufnehmen! die Bewirtung mit den Preisreden emofangen: der redeliebende Eros durch die Lobreden über den Eros bewirtet) und (damit, also) hier wie auf der tausendjährigen Wanderung, die wir gerade mit durchschritten haben (im mitdenkenden Hören, also eine geistige Wanderung), wohl getan uns befinden können. (für wohl im Tun uns achten und empfinden können).

Tugend in der Freudeversammlung der Tugenden als geliebt, geachtet (selbst wie von Göttern)

3.

„Und so, o Glaukon, ist dieser Mythos uns erhalten (esoothä - uns gerettet) worden [denn einer blieb ohne Vergessen] und nicht verlogen gegangen und kann auch uns retten (sooseien – erhalten), wenn wir durch ihn überzeugt werden, uns überzeugen lassen [indem wir der Bitte seiner Rede entsoprechen – peithoo – durch Bitten zu überzeugen suchen, besänftigen – zur Besinnung rufen > sich bestimmen lassen, sich überzeugen lassen ... bereitwillig folge leisten] – auf daß wir [kai] den Lethe Fluß wohl durchschreiten und die Seele diabäsomethoa (von diabasis, - Übergang , Durchschreiten wie über eine Brücke)

Sondern wenn mir folgend / durch mich überreden / bereden lasst (vgl. vor dem Sonnengleichnis) glauben, sich verbinden – die unsterbliche Seele zu glauben (sich auf die unsterbliche Seele verlassend, diese Sitte bewahrend, sich ihr verbinden, sich ihr anschließen), daß sie vermöge alle Übel zu ertragen wie alles Gute. (doch schwerer zu tragen das Glück) [an die unsterblich Seele, die das Ewige des Zu Achtenden der Gerechtigkeit und der Tugend als höchstes achtet]

sich immer an den Hinauf-Weg haltend und der Gerechtigkeit mit Besonnenheit (!) auf alle Weise (tropoon) nachtrachten, damit wir selbst uns freund und den Göttern lieb seien, selbst bleiben hier, und davontragen den Preis / Lohn (Belohnung im Wettkampf – im Verhältnis zur Entscheidung der lebensführung – unter Beurteilung durch das „Kampfgericht“) - als allseitig anerkannt!

auf daß wir hier wie auf der tausenjährigen Wanderung wohl tuend (sein können) / seien (wie seien Aufforderung.

Um (vollkommen) gerecht zu sein, reicht die richterliche Scheidung von gerechten und ungerechten Seelen nicht aus.

Im Gericht dieser Scheidung (im Blick auf die Lebensführung als einer ganzen, alle Taten: beurteilung der Grundhaltung /Vergeltung von Taten – Grade der Strafe: Gerechtigkeit als Vergeltung) geht in das selbe Maß des Gebührenden für Zumessung der Strafen für eine vergeltende Gerechtigkeit mit der Idee der dikaiosyne die Macht einer Notwendigkeit ein, darin der Vollzug von Buße und Strafe die Gerechtigkeit mit einem Zwang vereint sich zeigen läßt. Darin ist sie Maß nicht mehr je nur als Idee, sondern – dem Nichtideellen der Ananke verbunden, deren Erzeugungen sich nicht einfach nach der Idee richten (die sich nach Ideen ausrichten sind die Menschen im Verhältnis zum Göttlichen, während noch die Taten in ihrer Bestimmbarkeit durch Beurteilung auch der Götter der Ananke unterworfen sind.)

4.

Spindel der Notwendigkeit, die durch die Erde hindurchgeht, knüpft, mit den auf- und sich abwickelnden Lebensfäden, das irdisch schicksalhafte der materiell bedingten Lebensführung von dessen Maß der Vergeltung her in die auf das Gericht folgende Vergeltungshandlung, das Folgegeschehen aus dem richterlich beurteilten Tatengedächtnis eines vollendeten Lebens, das darin keinerlei Berichtigung mehr hat – Zeit der Taten: Geschichte.

Ermahnung – für die Höherer, für den, der Kunde bringt?

Sein der Gerechtigkeit als ein gerecht Wirken ist ein gerecht Machen. / Das Machwerk der Spindel, deren Schalenführung als Himmel und Erde über- und um- und durchspannend einer Webmaschine gleicht.

Der Idee der Gerechtigkeit ist handelnd nur in der Einheit von richerlichem und lehrendem Verhalten zu entsprechen, das als vereinigt vereinigendes Vorbild für die Seele muß sein können: sie orientierend im sich Ordnen als diese ihre Kräfte im Bestimmen, in der Maßgabe ermöglichend = nur in der Erneuerung ihres Lebens – selbstkritisch: der Ort der reformatio.

619e

Idee mit Erfahrung vereint für das beurteilende Gedächtnis und die vernünftige, Besonnenheit erfordernde Wahl und die Konsequenzen der Handlungen auszeichnend - als eigene und zu verantwortende, sonst wären ihre Bestimmungen nicht berichtigbar, die Frage nach dem Maß und dessen, was gilt, sinnlos (nicht nur unbeantwortbar, sondern in der Erwartungshaltung eines Erfragens eigentlich nicht stellbar: Die Frage nach dem Maß setzt die Berichtigung voraus.)

Die Seelen, die da nach ihrer Trennung vom Körper im Ende des gelebten Lebens vor die Richter treten, sind nicht wie in den Entscheidungen der Lebensführung vor eine Wegscheide gestellt, wie Herakles (am Scheideweg), sie haben auch keine ihr Schicksal mitentscheidende, weil ihr eigene Ausrichtung zum Ausdruck bringende Wahl im Vorzug zu treffen, wie Paris in seinem Urteil: sie werden entschieden, sie sind die Beurteilten.

Er sagte aber, nachdem seine Seele ausgefahren, sei sie S614c mit vielen andern gewandelt und sie wären an einen wunderbaren Ort gekommen, wo in der Erde zwei aneinandergrenzende Spalten gewesen und am Himmel gleichfalls zwei andere ihnen gegenüber. Zwischen diesen seien Richter gesessen, welche, nachdem sie die Seelen durch ihren Richterspruch geschieden, den Gerechten befohlen hätten, den Weg rechts nach oben durch den Himmel einzuschlagen, nachdem sie ihnen Zeichen dessen, worüber sie gerichtet worden, vorne angehängt, den Ungerechten aber den Weg links nach unten, und auch diese hätten hinten Zeichen gehabt von allem, was S614d sie getan.

Bezeichnet wird der für die von ihrem Körper getrennte, herausgefahrene und zu eigenem, gleichsam auf sich gestellten, aber nicht mehr selbständig geführten Wandel hinweggetragenen Seelen durch jene zwei einander gegenüber liegende Doppelspalten, die jeweils für oben und unten einen Weg hin und zurück beginnen und am selben Ort verwandelt wieder enden lassen, zwischen denen die Richter sitzen.

Bei der Rückkehr ist der selbe Ort jedoch verwandelt (ist nicht mehr derselbe seiner Art nach), nicht mehr das Gericht der Scheidung, sondern die Wiese der Begegnung (verwandelt sind die Seelen, geläutert, Glück des Lohns und Leid der Strafen erfahren habend und davon berichten könnend)

Der Sitz inmitten gibt mitsammt den ihn umrahmenden abgründigen Spaltenwegen, von dem man als betrachter nur hören, nicht selbst schauen kann, solange eine Seele nicht hier oder dorthin hat mitgehen können und müssen (nur hierhin ODER dorthin: keine Doppelerfahrung außer ihren Berichten: nur die Grenze des Abgrunds, des Schlundes und der Anfangsweg: Hinauf oder Hinab.), ein Bild des scheidenden, lohnenden und strafenden Gerichts (verteilende, zuteilende wie strafende Gerechtigkeit).

Das jede menschliche Seele gerecht und ungerecht ist, also eine moralisch betrachtet gemischte, betrifft, was in der Scheidung nach gerechten und ungerechten widerfährt, sie je selbst – und diese für die Selbstunterscheidung bedeutsame Richtertrennung von gerechten und ungerechten Seelen verweist sie auf eine Sammlung der jeweils im einzelnen als gerecht oder ungerecht, als gut oder als schlecht, als schön oder als häßlich zu beurteilende Taten. Diese nun werden für die gerechten ihnen als Zeichen vorne angeheftet, so daß sie von sich selbst wie von den begegnenden erkannt und gewußt werden können; den ungerechten aber ist die bezeichnende Summe ihres Tuns hintan befestigt (als Gezeichnete), so daß nur diejenigen sie erkennen, von denen sie davonlaufen, die sie fliehen: sie haben kein einander Erkennen (in der liebenden Eröffnung der einander zugewandten Seelen als grundgütiger).  Mit der Summierung in der Scheidung nach gerecht und ungerecht erhalten sie vorgriff auf eine Lebensentscheidung, die jedoch nur in der Scheidung der Seelen voneinander in ihren im Ganzen ermessenen Arten vorgestellt wird; wie gesagt, keine eigene Entscheidung: nur ein erkennen in der Konsequenz des Gerichtetwerdens im Blick auf die Summe der eigenen, der Seele selbst zugeschriebenen taten

Lohn und Strafe aber werden den einzelnen Taten zubemessen (zehnfach in der Strafe).

5.

Die scheidend zugewiesenen Wege werden als der nach rechts und oben, und nach links unten in den Ausrichtungen zweifach entgegengesetzt, in vertikaler wie horizontaler Orientierung im Raum. Das Rechte mit rechts und der Ausrichtung nach oben korreliert. Doch ist damit noch nicht eine eigene Wegentscheidung verbunden; die Scheidung und der Gang ist erzwungen, unterliegt in der Entscheidung ganz dem Beurteiltwerden im Gericht.

Für das Leben selbst als gemischtes bedarf es mit dem Gedächtnis der Schilderung jenes Orts und der Scheidungsentscheidung dort dann der Wiedereinmischung der Notwendigkeit für die Gestalt von selbst wählbaren, von lebbaren Lebensformen (diese sind nicht im Bild des steilen und schweren Wegs nach oben und dem breiten und leichten Weg als Abweg nach unten zur Entscheidung zu stellen; hierzu wären wir eher auf das Höhlengleichnis verwiesen, das jedoch Auf- wie Abstieg als Mühevoll darstellt und als gefährlich und gefährdet in verschiedener Hinsicht).

614d flicht nun (und auch darum) einen Hinweis auf das Gebot ein, den Menschen ein Verkünder des Dortigen zu sein, damit er aufmerksam sei „alles an diesem Orte zu hören und zu schauen.“ (vgl. „Sichtbares, Hörbares“ Celan, Anabasis – der Dichter als Künder des hörend Geschauten im Gedächtnis der toten Seelen). Dann setzt zunächst der Augenzeugenbericht fort, das zu Schauende in Bildern und Eigenschaften des Schaubaren aufzeichnend.

Er habe nun dort gesehen, wie durch den einen jener Spalte im Himmel und in der Erde die Seelen, nachdem sie gerichtet worden, abgezogen seien, von den andern beiden aber seien, aus dem in der Erde Seelen hervorgekommen voller Schmutz und Staub, durch den andern hingegen seien

S614e    reine Seelen vom Himmel herabgestiegen.

Anschaulichkeitsbild der Seelen als reiner oder als beschmutzter: ganz im Erinnerungsbild ihres Körperdaseins: getrennt davon sind sie nicht anders denn in Analogie dazu (des Wahrnehmbaren, jedoch nur als Schatten oder Gespenstern gleich) vorstellbar, gedenkbar – erzählerisch, dirchterisch zu figurieren. (vgl. in 621 c das Vermeiden, daß sich die Seelen beflecken – im Verhältnis zum Vergessen; Bedeutung des Gedächtnisses dieses Mythos für die philosophische Bildung – steht der verfehlten Auslegung durch die Schule der sog. „ungeschriebenen Lehre“ entgegen).

Von langer Wanderung, wie zu festlicher Versammlung auf den Matten / Wiesen hingelagert. Einander die Erfahrungen der Wege mitteilend, einander erzählt im Andenken

Sammlung im Andenken. - hier mischen sich wieder im Mitteilen des Andenkens Leid und Freude, Klage und Lob

Die Spaltenwege verorten eine Trennung nach Himmel (für das Sein und Wandeln im Himmel) und Erde (Wanderung in der Erde, also unterirdisch) – keine von beiden haben auf ihren Wanderungen ein menschliches Leben geführt (zwischen Himmel und Erde) – stellen keine Lebensziele dar.

weil sie Städte verraten oder Heere in die Knechtschaft gestürzt oder sonst großes Elend mitverschuldet hatten, so mußten sie von dem allen für jedes zehnfache Pein erdulden; hatten sie aber wiederum auch Wohltaten gespendet und sich gerecht und heilig erwiesen, so empfingen sie auch dafür nach demselben Maßstabe S615c den Preis. (vgl. 621d)