Grundrechte - Grundpflichten


1.

Als unmittelbar geltendes Recht können Grundrechte nicht ohne Widerstreit aufgehoben oder als solche eingeschränkt werden. Solche Macht der Aufhebung oder Einschränkung von Grundrecht, das ihrem Begriff nach das Recht selbst bedingt, könnte nur für eine Recht setzende Macht angenommen werden, die in einer verfassten Gemeinschaft, deren Rechtsordnung sich an für sie unmittelbar geltende Grundrechte bindet, nur diese Gemeinschaft selbst als Gesetzgeber sein kann.

Wie die Anerkennung unveräußerlicher Grundrechte durch Grundgesetze ihre Bindungskraft entfalten und die Erschließung ihres Bedingungsgefüges zur Erkenntnis von Recht als solchem gehört, so müssen auch in einer die eigene Gesetzgebungsvermögen orientierenden Verfassung die Bedingungen der Unmittelbarkeit von Grundrechten erkennbar sein und grundgesetzlich bestimmt werden.

Ein der Grundlegung einer Rechtsordnung fähiges Grundgesetz hat darum – und der Sache nach begegnet dies auch im GG der BRD – zu unterscheiden zwischen der zum Seinkönnen von Recht als solchem gehörenden Unmittelbarkeit der Geltung von Grundrechten und deren jeweiligen Inanspruchnahme, die nicht unmittelbar geltend gemacht werden kann, da sie im Unterschied zur Grundgesetzgebung, die die Rechtsordnung grundlegt und aus der Unbedingtheit der Würdeachtung die grundrechtlich bestimmten Selbstverpflichtungen ableitet ( als rechtlich-sittliche Begründung), die Bedingung der Anwendung in Befolgung von Grundgesetzen und damit deren Zusammenstimmung zu berücksichtigen hat.

Es muß die Inanspruchnahme eines durch ein Grundgesetz statuiertes Grundrechts die Einstimmungsbedingungen seines in Geltung Bringens berücksichtigen, da sie einen Anspruch auf Anerkennung gegen andere erhebt, die nicht schon gegeben ist. Der einen Anspruch auf ein Recht als das grundlegend Seine Erhebende kann dies nur auf einem Feld von Handeln im Wissen tun, das sie sich nicht schon in jener Einstimmung befinden, die er für den Anspruchsgrund aus der Grundgesetzgebung voraussetzt. Der Anspruch auf Anerkennung oder Gewährleistung zur Durchsetzung eines Rechts wird im Feld eines nicht mehr nur potentiellen Widerstreits erhoben und unterscheidet sich für die wahrzunehmende Verantwortung vom Geltungsmodus der Unmittelbarkeit von Grundrechten.


2.

Daß Grundrechte unmittelbar nur die Verfassungsorgane verpflichteten und nur für deren Entscheidungen verbindlich sein würden, nicht aber als Selbstbindung des grundgesetzgebenden Volkes und darum nicht eigentlich als Grundlage seiner eigenen, insgesamt und für jeder einzelne seiner Glieder, ist eine Fehldeutung der Verpflichtungsstruktur der Grundlegung einer Rechtsordnung. Aus dieser Fehldeutung von Grundrecht und Grundgesetz folgt aus der Indifferenz und Verwechselung von Unmittelbarkeit des Rechts als Grundrecht und dessen Inanspruchnahme gegen andere, die eine Vermittlungsbeurteilung zur Anerkennung – als einheits- und einstimmungsfähig – und Reflexion auf die Anerkennung erfordert, das Problem einer der Verfassungsordndung feindlichen Insanspruchnahme von scheinbar per Natur gegründeten Individualrechten. Denn dann wird statt als zur Geltungsbedingung von Recht überhaupt gehörend und darin die Gesetzgebung als rechtsetzendes Handeln überhaupt verpflichtend und von allen fordernd, die dem Recht als Gesetz – vom für sie geltenden Grundgesetz her – unterworfen sind,  eine  scheinbar „vorrechtliche“ Unmittelbarkeit von Grundrecht als Individuualrecht, das den vereinzelten Menschen von „Natur“ aus zusteht, 

- als Abwehrrecht gegen „den Staat“ begriffen und  darum vorzüglich gegen staatliche Gesetzgebung und Verordnungen nun die grundrechtsunmittelbar Urteilskraft des Richters gegen die als  Regierung pauschal begriffene Staatsmacht in Stellung gebracht.

Verkannt wird, dass  die Grundrechtsgesetze des Grundgesetzes in ihrem Gewährleistungsanspruch durch dafür bestellte Gemeinschaftsorgane im Grundgesetz nicht aus einer gemeinschaftlichen staatsgründenden Verfassungsgesetzgebung zur einer Geltung gebracht sind, die aus einem auf die Menschheitlichen Vermögen des Personseinkönnens in durch staatliches Recht geschützten Achtungs- und Anerkennungsgemeinschaften bezogener Erkenntnis sich in ihrem Verpflichtungsgehalt begründen, also einen sittlichen Bestimmungsgrund in der Vernunftvermögen der Freiheit haben.

→ Wir sind der Staat.

→ Fehldeutung liberaler, liberalistischer Rechtsauffassung.

3.

Die in den Grundrechtsartikeln genannte „Einschränkung“ durch Gesetzgebung betrifft die Inanspruchnahme, die nach dem Bestimmungsgefüge der Begründung von Grundrechten mit dem für sie insgesamt fundierende Freiheitsrecht in Art 2 grundgesetzgebend mit zu beachtenden Verpflichtungsbedingungen verbunden ist, die jede Person betreffen, das Macht und Einfluß unter dem Anspruch eines Grundrechts ausübt und dies als gemeinschaftlich gewährleistet begreift. Art 2.1, der die Entfaltung der Persönlichkeit zu gewährleisten als verpflichtung aufnimmt, folgt aus der Würdeachtung des Art 1.1  und ihrer Schutzverpflichtung, die nur durch Anerkennung von Grundrechten möglich ist, die ein Recht auf Achtung allgemein zur Geltung bringen. Darum ist das Recht der Grundrechte mit der Verpflichtung zur Gesetzgebung verbunden. In Entsprechung zum Achtungsgebot des Art 1 GG verlangt die Unmittelbarkeit des Rechts als anerkannt werdende Grundrechten die Ausübung von Gesetzgebung – und Rechtsprechung – im Namen des vereinigten Volkes, also die die Einstimmung als selbstsgesetzgebendes Volk im Selbstbewußtsein eines jeden seiner Glieder – als Mensch und Person – in Verantwortung des Freiheitsrechts als allen gemeinsam (Heraklit).

Das mit der Geltung von Recht ursprünglich (in der Gründung von Rechtsordnung) verbundene, und darum als unmittelbar geltende Grundrecht begründet zwar den Anspruch seiner Anerkennung (aus Achtung der Würde der Person als grundgesetzgebungsfähig), unterliegt darin aber gerade der Verpflichtung zur Begründung des Anspruchs auf Ausübung eines Rechts, dort, wo es fallbezogen einem anderen Rechtsanspruch entgegenstehen kann und auf sittlich und gesetzlich und rechtlich begründete Durchsetzbarkeit seines Anerkennungsanspruchs – im konkreten Fall, im bestimmten Verhältnis zu anderen Personen oder Institutionen – angewiesen ist.

Darum gehört zum Grundrecht zusammen mit dem als Teilhabe- und Zustimmungsrecht auszuübenden Grundrecht der Gesetzgebung – aus Vernunftvermögen der Person – die Pflicht zur Rechtfertigung der Ausübung eines Grundrechtsanspruchs in darum zugleich rechtsprechender Urteilskraft der Anwendung von Grundgesetzen.

Das Grundrecht auf Rechtfertigung steht dann als für den jeweiligen Gegenüber anzuerkennen dem zu, dem gegenüber ein Recht auf Ausübung eines Grundrechts geltend gemacht wird.

Mögliche Konflikte sind dann auch nicht als Konflikte der Grundrechte untereinander zu begreifen: als solche können sie nicht kollidieren, wenn sie unmittelbar als Recht gelten sollen und darum in ihrer Grundgeltung unter den Einheitsbedingungen des Rechts als Recht, d.h. des gerechtfertigen Rechts stehen, das sich in der Verfassungsgesetzgebung und deren rechten, der Idee von Recht aus ursprünglicher Ordnung entsprechenden Anwendung (in der Verfassungswirklichkeit) darstellen können muß.

4.

Im Verhältnis zu Verfassungsorganen, denen die Wahrung der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsordnung in Gesetzgebung und Anwendung obliegt, ist ein gegen sie und ihren Verordnungen, Maßnahmen und Gesetzen geltend gemachter Grundrechtsanspruch inbesondere rechtfertigungsbedürftig, da ein solche Anspruch sich gegen die Obliegendheit der Gemeinschaftsinstitution in der Vertreteung der grundgesetzgebenden Einheit des Volkes sich wendet, also nur gerechtfertigt sein kann, wenn nach dem Maß der Organvertretung diese ihre Verpflichtungen verfehlt hat.

Darum ist aber in der Inanspruchnahme von Grundrechten gegenüber „dem Staat“ die Bedingung der durch die Institutionen und rechtsetzenden, rechtsentscheidenden Handlungen – im Maß der Rechtsstaatlichkeit und der Verfassungsgemäßheit – nicht ein „scheinunmittelbares“ Anspruchsrecht der Inhalt des Anspruchsgrundes, sondern die imt der Unmittelbarkeit unabtrennbar verbundene Maßgeblichkeit des Achtungs- und Schutzgrundes, der hier also nicht nur das Verhältnis der Verfassungsorgane „zum Bürger“ (als Untertanen), sondern das Verpflichtungsverhältnis jedes einzelnen zur Gemeinschaft in Gestalt ihrer sie (unter Einheits- und Einstimmigkeitsbedingungen) repräsentierende Vertretungen (als mitverantwortliche Personen aus Teilhabe an der Selbstgesetzgebung der  Staatsgründung → Achtungsverprechen als maßgeblich im Rechtsanspruch eines Grundrechts → nicht erst aus Drittwirkung).

Darum hat die Inanspruchnahme von Grundrechten als unmittelbares Recht, das aus der sittlichen Achtungsverpflichtung des Menschen als Person sich im Grundgesetz und seinem Begründungsgefüge zur Geltung bringt, eine vermittelnde und das Begründungsvermögen der Vernunft wie das Anwendungsvermögen von Recht und Gesetz der (bedingungs- und vermögensreflexiven, der kritisch und selbstkritisch reflektierenden) Urteilskraft herausfordernde Verpflichtung, die nur in Gemeinschaft und nur wieder durch Teilhabe an – rechtsentscheidend, Rechtsanspruchskonflikte lösenden – Verfahren der Gesetzgebung und der Rechtsprechung in Beurteilung, Berichtigung oder Bestät9igung von gemeinschaftsverbindlichen Maßnahmen, die in Stellvertretung für sie durch dafür legitimierte Einrichtungen und Institutionen getroffen werden.

Dass diese in Beurteilung ihrer Maßnahmen und Entscheidungen ihrerseits unter Rechtfertigungspflicht stehen, und diese sich als sitten- und verfassungsgemäß und angemessen ausweisen lassen können müssen (je zu seiner Zeit) ist aufgrund der dargelegten Konstellation von Bedingungen der Rechtmäßigkeit selbstverständlich (vgl. dagegen: „Verhältnismäßigkeitsabwägungen unter der verfehlten Annahme von „Grundrechtskollisionen“).


"Es liegt nämlich der Grund aller praktischen Gesetzgebung objectiv in der Regel und der Form der Allgemeinheit, die sie ein Gesetz (allenfalls Naturgesetz) zu sein fähig macht (nach dem ersten Princip), subjectiv aber im Zwecke; das Subject aller Zwecke aber ist jedes vernünftige Wesen, als Zweck an sich selbst (nach dem zweiten Princip): hieraus folgt nun das dritte praktische Princip des Willens, als oberste Bedingung der Zusammenstimmung desselben mit der allgemeinen praktischen Vernunft, die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens.

Alle Maximen werden nach diesem Princip verworfen, die mit der eigenen allgemeinen Gesetzgebung des Willens nicht zusammen bestehen können. Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen werden muß."

(Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten IV 431)