Reflexive Einteilung der Erkenntnisvermögen


1.1 Reflexive Einteilung

Kant unterscheidet in der Kritik der reinen Vernunft grundlegend für beide Vermögen zwischen Verstandeserkenntnis und Vernunfterkenntnis, gibt als Hauptaufgabe der Kritik ihrer Vermögen die Unterscheidung von Kategorien und Ideen an (Prolegomena § 41), zieht aber nicht die für die Methodenlehre entscheidende Konsequenz, dass das Vermögen der Erkenntnis als solchem damit weder nur dem Verstand noch nur der Vernunft zugeordnet werden kann. Die Idee der Erkenntnis kann ihren Ort, an dem sie durch ihren Begriff bedeutet sein kann, nur der Urteilskraft dort zugehören, wie diese als Vermögen der Unterscheidung die grundlegenden Arten der Erkenntnis begreifbar macht, entscheidend zuordnet und integriert.

Die von der Urteilskraft getragene reflexive Einteilung der Erkenntnis als Vermögen verfährt nicht disjunktiv, sondern weist eine gegenüber dem Gebrauch der disjunktiven Urteilsfunktion andere Einteilungsstruktur auf, die auf eine Identität ermöglichende Einheit ihrer Bedingungen sich gründet, also als reflexive keine Selbstbeziehung von Verstandesfunktionen im Urteil darstellt.

Dass eine solche Selbstanwendung von Urteilsfunktionen und Kategorien auf ihre sie gründenden Vermögen zu Widerstreiten führt, zeigt in die „transzendendentale Dialektik“ in der KrV, zu deren Auflösung jene Methodenerkenntnis erforderlich ist, die zu erschließen die KrV unternimmt. Die reflexive Erkenntnis der Kritik der Vermögen schließt ein berichtigendes Erkennen (B 8..) ein und hat teil an der Bildung zur Angemessenheit in Ausübung und Ausrichtung der beteiligten Vermögen. Das Werk der Kritik entdeckt und löst den Schein von Erkenntnisgeltung aus spekulativer Grundsatzerzeugung auf, in den die mit Mitteln des kategorialen Verstandesgebrauchs operierende Vernunft in ihren Schlüssen sich verstrickt. Diese ihre Widerstreite, die Kant in der Dialektik der reinen Vernunft exemplarisch rekonstruiert bilden den „Grund der Kritik“, die durch ihren Unterscheidungskraft der Bedingungen und Aufgaben der verschiedenen Erkenntnisvermögen eine grundlegende Ordnung zur Orientierung, Angemessenheit und Einstimmung im selbstbewußten Gebrauch ursprünglich eigener Vermögen ermöglicht.

1.2 Diakritisches Verfahren

Die durch die Kritik der reinen Vernunft zur Geltung gebrachten Einteilungsverfahren gehen von Begriffen in Bedeutung der Idee, also des Selbstseins und des selbstgemäß Ausgeübtwerdenkönnens auch der in der Bestimmungsarbeit selbst in Gebrauch genommenen Denk- und Erkenntnisvermögen aus. Sie unterscheiden sich so von der Verfahrensart disjunktiver Urteile; ihre auf ein Identitätsverhalten auf dessen Einheitsbedingungen rückbezogenes Unterscheiden wird nicht durch den funktionellen Gebrauch von Verneinung und Negation bewerkstelligt.

Diese andersartige Verfahrensart, die wir die einer reflexiven Einteilung genannt haben, ist als Methode aufzuweisen, die zur Erfüllung des Hauptanliegen der Kritik der reinen Vernunft gehört. Kant nennt sie zurecht einen „Traktat über die Methode“. Der Ort ihrer Bestimmung – im Aufgabenbereich der erkenntnisreflexiven Urteilskraft – konnte bei Abfassung der Kritik der reinen Vernunft 1781 (2. Auflage 1787) noch nicht erkannt und gefunden sein, da Kant die Kritik der Urteilskraft (1790) für den Entwurf der Architektur der kritischen Grundlegung noch nicht konzipiert hatte und er es auch später nicht zureichend klären konnte, wie Ideen – als Maß von Vermögen – Prinzipien der Urteilskraft als reflektierende ausmachen, eben ohne als „Grundsätze“ in leitender Geltung für Reflexion und Gemeinsinn sein zu können. Darum konnte die Einsicht in die Verfahrensweise der Begriffsbestimmung der Vermögen von Verstand, Vernunft und Urteilskraft in ihrer Bedeutung für das gesamte Gefüge der drei Kritiken und damit der Art der Verfassung des Systems von Kant selbst nicht mehr erschlossen werden. Das Werk der Kritik war, auch nach Kants eigener Einsicht, nicht vollendet.

Die einer kongenialen Interpretation der Werke der Kritik darum obliegende Vollendung des kritischen Systems wird zusammen mit der Ableitung der Urteilsfunktionen und Kategorien deren Begrenzung unter Rechtfertigungsbedingungen des Gebrauchs nachvollziehen und so eine auf die Erkenntnis von Vermögensbedingungen bezogenen Begriff der Idee als Maß zur Angemessenheit bestimmen und rechtfertigen können müssen. Kants eignem Hinweis folgend wird sie sich an der paradigmatischen Bedeutung von Ideen nach Platon und dessen Methodeneinsicht der diakritiké und der reflexiven Einteilungen höchster Gattungen im Dialog Sophistes orientieren, die eine erstaunliche Verwandtschaft mit Kants Verfahren der Kritik  ausweist.

1.3 Begriff des Vermögens

Mit dem von Kant gebrauchten Begriff von Vermögen ist in Unterscheidung von einer empirischen Behandlungsweise zu erkennen aufgegeben, die jene unerlaubte, weil Widerstreit erzeugende und darum nicht rechtfertigbare Anwendung von Kategorien auf Vermögen als den Vernunftvermögen widerfahren aufnimmt und in Beachtung ihres Schicksals sie aus der Idee als Maß des Vermögens beurteilend erkennt und darum in teilnehmender Verantwortung um die Wahrung als Vermögen besorgt ist. Vernunft und Urteilskraft sind darin fürsorgend für sich als diejenigen Vermögen, die eine Fürsorge für die Seele in alle ihren Vermögen auszuüben hat. Zweck an sich selbst können sie nur sein, wenn durch sie eine jedes der teillhabenden Vermögen als Zweck an sich selbst geachtet wird. Das ergibt sich in der Kritik aus der Einsicht, dass auch die Vernunft selbst durch jene als teilhabend zu erkennenden Vermögen der Seele bedingt ist – wir für die Äisthesis und die Sinnlichkeit zu zeigen, ohne deren als bedingend beachtetes Vermögen Verstand und Vernunft nicht zu unterscheiden und darum zu keiner Angemessenheit je mit sich selbst im Bewußtsein ihres Gebrauchs zu bringen sind.

Daraus ergibt sich für die Rechtfertigungseinsicht eine Apologie der Sinnlichkeitsvermögen als die Einheit des vernünftigen Selbstbewußtseins bedingende, und darum im Vernunftgebrauch als zur ursprüngliche Vereinigung gehörend zu würdigende Vermögen.

Die Kritik ist selbst ein Vermögen, und zwar der Urteilskraft, die es selbstangemessen nur in Annahme des Maßes eines jeden der als es selbst zu erkennenden Vermögen ausüben kann. Sie übt dieses Vermögen der Kritik in der Haltung der Achtung, also unter leitender Teilhabe der Vernunftvermögen aus, das darin seinerseits von einem Achtungsempfinden geleitet wird, das sich von der Wahrnehmungsempfindung sinnlicher Erscheinungen zugleich auch unterscheidet. Die zur Erschließung von Einheitsbedingungen leitende Beachtung der Vermögen selbst als sie selbst entspricht der Bedeutung von Idee im platonischen Sinne: des etwas selbst gemäß seiner selbst Seins. Kant nimmt diese Ideenbedeutung von Vermögen in seiner Kritik auf und hält so – gegen die späteren Mißverständnisse vor allem im Neukantianismus, mit „Vermögen“ sei eine psychologische Beschreibung von „mentalen Zuständen“ oder dgl. gedacht – die empirische Betrachtung für die Wegweisung aus Methodenweg gerade ab:

Plato bediente sich des Ausdrucks Idee so, daß man wohl sieht, er habe darunter etwas verstanden, was nicht allein niemals von den Sinnen entlehnt wird, sondern welches sogar die Begriffe des Verstandes, mit denen sich Aristoteles beschäftigte, weit übersteigt, indem in der Erfahrung niemals etwas damit Congruirendes angetroffen wird. (KrV B 370)

Nur aus Begriffen, die Ideen von Vermögen bedeuten, können aus der Annahme der Selbstentsprechung die Bedingungen erkannt werden, daß dies ermöglicht wird. Darum legt Kant auch die Idee des Verstandes seiner Analytik zugrunde (A 67), die er als transzendentale Reflexion durch Gliederungen und Verbindungen von Einheitsformen durchführt, in denen der Verstand von der Erfüllung seiner Vermögensfunktionen her begriffen wird, also als er selbst sich gemäß nur sein kann, wenn er in der und für die Gegenstandserkenntnis mit dem von ihm zugleich unterschiedenen und notwendig unterscheidbaren Verhalten der Sinnlichkeit sich zu verbinden vermag, sich aber nicht selbst gemäß verhalten könnte, wenn er ohne Rezeptivität zu Urteilen über Seiendes, wie es gegeben ist, mit Hilfe der schließenden Vernunft (Antinomien) oder durch Selbstanwendung (wie in Hegels WdL) zu gelangen sucht.