Politische Urteilskraft


Hannah Arendt - Ethos und  Verantwortung des politischen Denkens

Vortrag und Gespräch – Ludwigsburg 27.03.2013


Das heute ermöglichte Gespräch wurde angeregt durch einen Film, der uns zunächst als Zuschauer in Anspruch nahm, aber ein Nachdenken und ein Durchsprechen zwischen Menschen initiierte und herausforderte.

Lassen Sie uns versuchen, das mit dem Gesehenen und Gehörten und dem aus dem Nachlesen Mitgedachte zu vertiefenen, um das so erfahrbar Gewordene in je eigene und zugleich gemeinsame Verantwortung nehmen zu können – aus je eigener Urteilskraft in der gesellschaftlich personalen Handlungsführung.

       
  • Denken im emphatischen Sinne – für Hannah Arendt auch von Heidegger her inspiriert, vom objektiven Erkennen (der Wissenschaften) oder nur logisch schließenden Denken sich unterscheidend, aber in Orientierung auf Weltverantwortung zwischen den Menschen

  • Handeln als Personen zwischen Menschen, welthaft / „Prädikat des Politischen ist, dass es immer im Miteinander der gemeinsamen Welt bleiben muss“ [Denktagebuch Bd.1, a.aO., S.591] Christina Thürmer-Rohr

  • Urteilen in Stellvertretung.

1951 notierte sie: „Mit welcher Konsequenz das eigentümliche Zwischen der Pluralität übersehen wird! Das absolut isolierte und selbstherrliche Subjekt begegnet einem zweiten in der Welt, gedenkt also sofort, sich dieses zweiten als

Mittel zu bedienen ... In der Begegnung ... zweier Selbstzwecke, öffnet sich die Welt wie ein Abgrund ... Die Achtung und der Respekt der ‚Menschenwürde’ ist wie ein ohnmächtiger Gruss über den Abgrund hinweg ... aus der absoluten Distanz“52. Denktagebuch Bd.1, a.a.O., S.109

1. Die Bedeutung der Urteilskraft für das politische Denken im Werk Hannah Arendts

H Arendts letztes großes Werk betitelte sie das „Leben des Geistes“ (Life of mind), gegliedert in drei Bände: vom Denken, vom Wollen und vom Urteilen.  Den letzten Teil hat sie nicht mehr fertigstellt, aus dem Nachlaß hat Ronald Beiner Vorlesungsmanuskripte zusammengestellt, die den Versuch zeigen, Kants Kritik der urteilskraft und deren Kritik des ästhetsichen Urteils zur Grundlage eines Denkens in politischer Handlungsverantwortung und der Beurteilungen von Entscheidungen zu machen.

Bereits in einem Brief an Karl Jaspers weist H Arendt die Bedeutung dieses Werks für ihre durchaus auch selbstkritisch zu verstehenden Überlegungen zur Methode:

„Habe viel gelernt. Bin vor allem über einiges Methodisches klar geworden, was Du doch an mir immer so vermisst. Darüber müssen wir sprechen. An Hand der ‚Kritik der Urteilskraft’.“

(zitiert nach Waltraud Meints: Partei ergreifen im Interesse der Welt. Eine Studie zur politischen Urteilskraft im Denken Hannah Arendts)

Among those who have closlye and sympathetically followed the progress of Hannah Arendt‘s thougt, it is ab commonly held view that her theory of judging would have been the culmination ofher liefe‘s work and that this final chapter of her philosphy would habe provided an answer to many of the unresolved problems of preceding chapters.“ (Glenn Gray zit nach Roland Beiner Letcturs on Kant‘s Political Philosophie S.117 Interpretive Essay)

Unter denen, die mit Sympathie und Sorgfalt (Nähe) der Entwicklung des Denkens von Hannah Arendt gefolgt sind, ist es gängige Ansicht (wird gemeiniglich dafürgehalten), daß ihre Überlegungen zur Urteilskraft (ihre Theorie des Be-Urteilens) Gipfel und Abschluß ihres Lebenswerks bildeten und daß diese letzte Kapitel ihrer philosophischen Arbeiten (Einsichten ihres philosophischen Werks) eine Antwort auf viele der ungelösten gebliebenen Fragen (Probleme) der vorangegangenen (Schritte und) Abschnitte (gegeben / bereitgestellt) geboten hätte.


Bezüge zur Urteilskraft und speziell zu ihrer Kritik (des Urteilsvermögens) durch Kant (auch hier in einer späten, auf gewisse Weise abschließenden Stellung) finden sich verstreut über ihr ganzes Werk, doch konnte sie die Ausarbeitung der expliziten Beschäftigung mit der Urteilskraft nicht mehr vollenden. Sie ist nur als Anhang zum Spätwerk: Das Leben des Geistes in Notizen und vorlesungsmanuskripten überliefert, die u.a. Ronald Beiner ediert und kommentiert hat. Aus ihnen hätte sich der dritte Teil nach Teil 1: Das Denken und Teil 2 Das Wollen bilden sollen.

Über die nichtmenschlichen Tätigkeiten : Denken, Wollen, Urteilen  (Brief an Heidegger 1971 – (Grunenberg 403)

Glenn Gray (mit dem H Arendt im Biefwechsel stand)

„As Kant‘s Critique of Judgment enabled him to breack trough some of the antinomies of the erlier critiques, so she hoped to resolve the perplexities of thinking and willing by pondering the nature of our capacity for judging.“

Sachgemäß hätte der Titel des 23 .Teils lauten können: die Urteilskraft des Politsichen. Kant aber, und darauf hebt Arendt immer wieder ab, hat als dritte Kritik eine Kritik des Geschmacks geschrieben, und so stellt sich uns die Aufgabe, mitzuerkennen, warum es ausgerechneti die kritische Beschäftigung mit unseren Vermögen der ästhetsichen Beurteilung ist, die Hannah Arendt – ich meine zurecht – als so bedeutsam erachtet für die politische Bewußtseinsbildung und die Gemeinschaftsverantwortung der eine Welt teilenden Handelnden.


Die Urteilskraft, die Kant als reflektierende zum Thema seiner dritten Kritik hat, wird (von den Interpreten) als das die Vermögen von Verstand und Vernunft vereinigende Vermögen begriffen. als die sich unterscheidenden Vermögen von Verstand und Vernunft reflexiv vereinigend muß sie die Unterscheidung auch wahren und beides kommt in den Verfahren der Kritik zum Tragen.

  • Unterscheidung auch der Erkenntnisarten (nicht der Denkarten)

„Allein in der Familie der oberen Erkenntnißvermögen giebt es doch noch ein Mittelglied zwischen dem Verstande und der Vernunft. Dieses ist die Urtheilskraft, von welcher man Ursache hat nach der Analogie zu vermuthen, daß sie eben sowohl, wenn gleich nicht eine eigene Gesetzgebung, doch ein ihr eigenes Princip nach Gesetzen zu suchen“ KdU Einl III B XXII (S. 249)

Nur in den Kritiken, den grundlegenden Werken der Kritik der Vermögen kommt das Geistige auf seinen Begriff – (vgl. Augustinus: in Entsprechung).

Kommt in ihrer Kritik das Geistige zu seinem Begriff, muß die Methodenerkenntnis der Kritik, die Wissenschaft der Methode zur Kritik der Urteilskraft gehören und es vermag die reflektierend Urteilskraft die Einheit von Verstand und Vernunft als sich unterscheidende Vermögen nur zu wahren, da sie die unterscheidung unter Einbeziehung der notwendigen Bezogenheit des Verstandes (mit Einbildungskraft und Schematisierung) auf Sinnlichkeit mitträgt und so die Einheit des Geistes nicht ohne das ästhetische wahren und zur Darstellung bringen kann.


Kurz gesagt: als Einheit der sich unterscheidenden Vermögen von Verstand und Vernunft ist die Reflexion der Urteilskraft eine kritische Erkenntnis, darin sich der Begriff des Geistes nur unter rechtfertigender Einbeziehung von ästhetik und einbildungskraft in die Einheit der geistigen Vermögen bestimmen läßt, ohne daß diese Einheit aber anders als in der Durchführung der Kritik der Vermögen sich darstellen oder denken läßt (eben nicht durch ein gegenstandsbezogenes Urteilen).

Damit ist auch die Vernunft, die sich im Gegenstandsbewußtsein den Einheitsbedingungen des urteilenden Verstandes in dessen logischen Konsistenzbedingungen von Erkenntnis einfügt (als Vermögen des Schließens, in Wahrung von prädikativen Einstimmungen sich auf Gegenstandsgegebenheit hin ordnender Allgemeinbegriffe), auch dort noch mit dem Ästhetischen verbunden, wo sie mit reflektierender Urteilskraft als praktsiche (handlungsleitende und handlungsverantwortende) Vernunft ihre Einheit asl Einstimmung von Bestimmungsverantwortung trägt und leistet und erhält.

Sie bleibt darin auf ein Potential von Widerstreit bezogen, den sie nur mit Kritik ihrer Vermögen austragen, nicht spekulativ oder durch bloß logische Überlegungen überwinden kann.


2. Gemeinsinn:

Urteilskraft: an der Stelle eines jeden anderen denkend Kant, KdU § 40:

V294  Dieses geschieht nun dadurch, daß man sein Urtheil an anderer nicht sowohl wirkliche als vielmehr bloß mögliche Urtheile hält und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurtheilung zufälliger Weise anhängen, abstrahirt: welches wiederum dadurch bewirkt wird, daß man das, was in dem Vorstellungszustande Materie, d.i. Empfindung ist, so viel möglich wegläßt und lediglich auf die formalen Eigenthümlichkeiten seiner Vorstellung oder seines Vorstellungszustandes Acht hat. Nun scheint diese Operation der Reflexion vielleicht allzu künstlich zu sein, um sie dem Vermögen, welches wir den gemeinen Sinn nennen, beizulegen; allein sie sieht auch nur so aus, wenn man sie in abstracten Formeln ausdrückt; an sich ist nichts natürlicher, als von Reiz und Rührung zu abstrahiren, wenn man ein Urtheil sucht, welches zur allgemeinen Regel dienen soll.

Folgende Maximen des gemeinen Menschenverstandes gehören zwar nicht hieher, als Theile der Geschmackskritik, können aber doch zur Erläuterung ihrer Grundsätze dienen. Es sind folgende: 1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Die erste ist die Maxime der vorurtheilfreien, die zweite der erweiterten, die dritte der consequenten Denkungsart.

Thürmer-Rohr: S 4 – Andere in sich zu repräsentieren (nur aufgrund einer ursprünglichen Gemeinschaft)

„der Mensch schlechthin als Typus jedes einzelnen“ Jonas „Augustin und das paulinische Freiheitsproblem“ S. 39

An der Stelle eines jeden (!) anderen denken: nicht auf den jeweiligen Gehalt des Gedachtwerdens, nicht einmal auf die Denkungsart, sondern auf das Vermögen des Denkens in seinem Identitätsgrund, auf dessen Grundformbestimmung der Begriff des Denkens verweist – als uns allen gemeinsam, die wir im Bewußtsein, daß wir denken eine Gemeinschaft von selbstbewußten Personen bilden.

Identitätsgrund des Vermögens zu denken –

(das politisch verantwortliche Denken, das sich unter den Menschen, (gleichsam weltstiftend) situiert, ist nicht an ein urteilendes Denken des Verstandes oder der Vernunft zu binden,

Gemeinsinn, der sich an den Urteilssinn der Vielen richtet

an der Stelle des anderen – zwar je selbst denkend, aber auch konsequent – und genau diese Anforderung nach Konsequenz vermissen die meisten der Kommentatoren und Interpreten in den Schriften und Reden Hannah Arendts – Mangel an Systematizität (vgl. Habermas)

3. Macht

Macht: kann nur in Strukturen zwangloser Kommunikation entstehen, nicht „von oben“ generiert werden. Habermas 245

„Macht besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, uns sie verschwindet, sobald sie isch wieder zertreuen.“  H A: vita acitva 194 [→ Kooperation und Gemeinschaft: Polis / dazu: Dichotomie von öffentlich und privat: in v.a.]

Die Mächtigen müssen „ihre Macht von den Erzeugern der Macht entlehnen“ (Lehen) 246 [Macht ausgehend von, wie wird sie erzeugt? wie übertragen? Lehns- als Dienstverhältnis der Herrschenden: Grund von Herrschaft – in der Bundesstiftung, die Stellvertretung erzeugt, die die Vernunft in der reflektierenden Urteilskraft „nachahmt“]

„Nicht von Gewalt leben politische Institutionen, sondern von Anerkennung.“ 242

234 „keine politische Führung kann ungestraft Macht durch Gewalt ersetzen.

4. Vermögen des sich Verhaltens - als Person in Gemeinschaft

240 Die mit Anerkennung (Versprechen, Vertrag) und Kommunikation verbundene Weise des politischen als des eigentlichen Handelns (i. U. zu Arbeit und Herstellen, sowie zum Verhalten als beschreibbarer Gegenstand des Behaviorismus

  • Kritik (Habermas S 232): bleibt begrifflich dem aristotelischen Denken verhaftet; The Human Conditin 1958 (dt. vita  activa) „systematsiche Erneuerung des Aristotetlischen Begriffs der Praxis“ [„politische Fragen nicht mir sozialökonomischen  vermengen“ 224 (Die grundlegende Bezugnahme auf Aristoteles teilt sie mit Heidegger; dazu unten zu „Sophistes“ - dynamis als Möglichkeit – nicht Vermögen; Aristoteles Einfluß auf Platon, aber „dynamis“ in der Politeia!)
        
  • Was heißt Denken? „Wir vermögen nur was wir mögen.“  (ein Lieben in der Orientierung des Vermögensverhaltens – Misologie – Selbstverachtung im Denkhandeln, Urteilsenthaltung, während wir doch urteilen ...Selbstachtung, Selbstentsprechung – Idee von Vermögen in ursprünglciher Einheit als Ermöglichung von Vermögen – eine Liebe zu Begriffen einschließend, die Gedächtnis geben: Begriff, Liebe, Gedächtnis / vgl. untern Liebe / Wille) //     Übersetzung und Publikation in USA

224 Revolution als Gründung einer Konstitution von Freiheit (Verfassungsgesetzgebung: nur in Auseinandersetzung in Erfahrung der Gesetzgebungen, die schon bestanden haben – in ihrer Funktion für die Gemeinschaftlichkeit – dem Geist auch der Gesetze)

231 erzeugte Macht durch gemeinsame Überzeugung (Geist und Gemeinsinn)

240 Begriff der kommunikativ erzeugten Macht aus Verklammerung mit aristotelischem Handlungstheorie zu lösen (Bedeutung von Kooperation für Staatsbegriff – Gleichheit und Gerechtigkeit: das Sein tun: Modell der Vermögen in einem jeden.)

Zusammenstimmung von verschiedenen Handlungsarten – Arbeiten: sowohl Arbeitsteilung als auch  strategisches Handeln (in Verhandlungen) müssen im politischen Denken berücksichtigt und mit verantwortet werden; dieses gliedert sich in der rechtsstaatlichen Freiheitsverantwortung auf in der Gewaltenteilung als aufeinander angewiesen und durch die Einheit des Geistes in einem jeden Staatsbürger als Person zu vereinigen aufgegeben.

5. Zum Bösen

In einem Brief an Karl Jaspers 1951 schrieb Arendt, dieses Böse habe mit menschlich begreifbaren, sündigen Motiven gar nichts mehr zu tun. „Was das radikal Böse nun wirklich ist, weiß ich nicht, aber mir scheint, es hat irgendwie... zu tun (mit der) Überflüssigmachung von Menschen als Menschen ... Dies ... hängt zusammen mit dem Wahn von einer Allmacht ... des Menschen. Wäre der Mensch qua Mensch all -

mächtig, dann wäre in der Tat nicht einzusehen, warum es die Menschen geben sollte ... : die Allmacht des Menschen macht die Menschen überflüssig“40. Die Anmaßung und Praktizierung von Allmacht ist nur möglich, wenn Pluralität zerstört ist und die verschiedenen Menschen wie zu Einem gemacht sind, ...“

6. Zur Methode

Meints betont das durch Walter Benjamin inspirierte konstellative Denken Arendts. Der Bedeutungshorizont der einzelnen politischen Begriffe erschließt sich erst, wenn er in eine Konstellation zu anderen Begriffen gebracht wird. Meints zeigt das Sprechen, Urteilen und Handeln, das Verhältnis von Freiheit, Macht und Öffentlichkeit als komplexes Beziehungsgeflecht. Aber auch der einzelne Begriff stellt in sich bereits eine Konstellation dar (nach W. Meints, Rez. Nordmann S. 2)

7. Freiheit und Staatsgründung

Dolf Sternberger:

„Auch hat sie […] ein Ereignis der neueren Geschichte entdeckt, untersucht und nachgezeichnet, worin die originäre Idee der Politik wiederzukehren schien: die amerikanische Revolution, die revolutionäre Staatsgründung, die Stiftung der Unionsverfassung oder – mit einem Wort, das ihr so teuer wurde, wie es den

‚gründenden Vätern‘ teuer war: die Entstehung der ‚Republik‘.“12 Es gibt also gute Gründe, die „Entdeckung der Freiheit“ in Amerika als ein zentrales Element von Hannah Arendts politischem Denken zu begreifen. Hiervon ausgehend lassen sich Schlüsselbegriffe ihrer „Theorie“ des Politischen erschließen.

(aus: Rez. Amerika S. 4)

Freiheit ist Sinn von Politik.

vgl. Staatsgründung: Gerechtigkeit und Freiheit in Platons Politeia:

Wenn wir also unsere erste Rede aufrechthalten wollen, daß die Wehrmänner uns von allen Geschäften entbunden, nichts anderes schaffen sollen,  S395c  als nur die Freiheit der Polis [als politisch verfasster Gemeinschaft] recht vollkommen, und sich auf nichts anderes befleißigen, was nicht hierzu beiträgt, so dürfen sie eben gar nichts anderes verrichten oder nachahmend darstellen; wenn aber ja darstellen, dann mögen sie nur, was dahin gehört, gleich von Kindheit an nachahmen, tapfere Männer, besonnene, fromme, edelmütige und anderes der Art, unedles aber nichts weder verrichten noch auch nachzuahmen geschickt sein, noch sonst etwas Schändliches, damit sie nicht von der Nachahmung das Sein  S395d  davontragen.

8. Vermögen

Politeia

S477c  Wir wollen doch sagen, Vermögen sei eine gewisse Art des Seienden, wodurch sowohl wir vermögen, was wir vermögen, als auch jegliches andere, was etwas vermag; wie ich zum Beispiel meine, daß Gesicht und Gehör zu den Vermögen gehören, wenn du anders verstehst, was ich mit diesem Begriff sagen will.  

Wohl verstehe ich, sagte er.  

So höre denn, was mir davon einleuchtet. Nämlich an einem Vermögen sehe ich weder Farbe, noch Gestalt, noch etwas dergleichen, wie an vielem anderen, worauf ich nur sehen darf, um bei mir selbst einiges zu unterscheiden, daß das eine dieses ist, das andere jenes. Bei einem Vermögen S477d  aber sehe ich lediglich darnach, worauf es sich bezieht und was es bewirkt, und darnach pflege ich ein jedes Vermögen als ein einzelnes zu benennen, und was für dasselbe bestimmt ist und dasselbe bewirkt, nenne ich auch dasselbe, was aber für etwas anderes und etwas anderes bewirkt, nenne ich auch ein anderes. Du aber, wie machst du es?  

Ebenso, sagte er.  

Noch einmal denn her, sprach ich, o Bester! Sagst du nun, Erkenntnis sei ein Vermögen, oder unter welche Gattung stellst du sie?  

Unter diese, sagte er, als das stärkste aller Vermögen.  

S477e  Und wie die Vorstellung, wollen wir die auch unter das Vermögen oder unter irgendeine andere Art bringen?  

(...)

Also haben wir gefunden, wie es scheint, daß was die Vielen vieles annehmen vom Schönen und dem übrigen derart sich irgendwo zwischen dem Nichtseienden und dem wahrhaft Seienden herumdreht.  

Das haben wir gefunden.  

Und im voraus waren wir einig geworden, wenn sich etwas dergleichen zeige, müsse davon gesagt werden, daß es vorstellbar sei und nicht erkennbar, indem das Dazwischenherumschweifende auch mit dem dazwischenliegenden Vermögen aufgefaßt wird.  

Darüber waren wir einig.  

S479e        Die also viel Schönes beschauen, das Schöne selbst aber nicht sehen, noch einem andern, der sie dazu führen will zu folgen vermögen, und die vielerlei Gerechtes, das Gerechte selbst aber nicht, und so alles, diese, wollen wir sagen, stellen alles //V225// vor, erkennen aber von dem, was sie vorstellen, nichts.   (...)

Wir müssen daher, sprach ich, so hierüber denken, wenn das Bisherige richtig ist, daß die Unterweisung nicht das sei, wofür einige sich vermessen sie auszugeben. Nämlich sie behaupten, wenn keine Erkenntnis in der  S518c Seele sei, könnten sie sie ihr einsetzen, wie wenn sie blinden Augen ein Gesicht einsetzten.  

Das behaupten sie freilich, sagte er.  

Die jetzige Rede aber, sprach ich, deutet an, daß dieses der Seele eines jeden einwohnende Vermögen und das Organ, womit jeder begreift, wie das Auge, nicht anders als mit dem gesamten Leibe zugleich sich aus dem Finstern aus Helle wenden konnte, so auch dieses nur mit der gesamten Seele zugleich von dem Werdenden abgeführt werden muß, bis es das Anschauen des Seienden und des glänzendsten unter den Seienden aushalten lernt. Dieses aber, sagten wir, sei

S518d    das Gute; nicht wahr?  

Ja.

Hiervon nun eben, sprach ich, mag sie wohl die Kunst sein, die Kunst der Umlenkung, auf welche Weise wohl am leichtesten und wirksamsten dieses Vermögen kann umgewendet werden, nicht die Kunst, ihm das Sehen erst einzubilden, sondern als ob es dies schon habe und nur nicht recht gestellt sei und nicht sehe, wohin es solle, ihm dieses zu erleichtern.  


9. Herrschen und Beherrschtwerden

daß von dem, was in ihm ist, jegliches das Seinige verrichtet in Absicht auf Herrschen und Beherrschtwerden?  

Dieses freilich und nichts anderes.  

Wie also? Begehrst du, daß die Gerechtigkeit noch etwas anderes sei als dieses Vermögen, welches einzelne Menschen sowohl als Staaten zu solchen macht?  

Nein, beim Zeus, sprach er, ich nicht.  

So ist uns also der Traum vollständig erfüllt, von dem wir sagten, daß er uns vorschwebe, daß wir gleich im Anfang der Begründung unseres Staates durch Gunst

S443c    irgendeines Gottes auch in den Anfang und die Grundzüge der Gerechtigkeit scheinen eingeschritten zu sein.  


10. Liebe

„Liebet, aber sehet zu, was ihr liebet. ... Liebet, was liebenswert ist.“ (Augustinus Jaspers 146)

Gottesliebe als Nächstenliebe

i. U. zu einem Gedanken der Liebe Gottes als selbstbezüglich / Selbstliebe.

In ihrer Dissertation über Augustinus setzt sich Arendt kritisch mit der christlichen Nächstenliebe auseinander, in der „Rahel“ mit der romantischen Liebe. Doch woher kommt das Thema der Liebe überhaupt an den Anfang des philosophischen Fragens der späteren politischen Denkerin, für die der „amor mundi“ ins Zentrum rückt? (...) Arendt interessiert sich in ihrer Dissertation zunächst vor allem für den Philosophen Augustinus und kommt dabei ihrem Lehrer Heidegger auf die Schliche, dessen „Sein und Zeit“ mehr von Augustinus geprägt ist als das kenntlich gemacht wird. Sie gewahrt als gemeinsamen Grundzug zwischen Heidegger und Augustinus „eine Egozentrik im metaphysischen Gewande“: nicht der Andere wird geliebt, sondern die Liebe selbst. Dazu Arendts Kommentar: „Ich liebe nicht einfach ihn, sondern etwas in ihm, das gerade, was er selber von sich her nicht ist.“ Und im Denktagebuch heißt es: „die Schwierigkeiten der Selbstliebe bei Augustinus ..., dass nur die Liebe geliebt wird – und sieht nicht, wie abscheulich das ist. Die Sentimentalität der Selbstliebe: das Sich-berauschen an Gefühlen ...“ Auf den Punkt gebracht: Arendt erkennt in Augustinus einen Wegbereiter des Weltverlustes der modernen Subjektivität.

„Liebe und Denken gehören zusammen.“

Tatjana Noemi Tömmel: „ ... wer anders als die Liebenden?“

Der Liebesbegriff bei Martin Heidegger und Hannah Arendt (Rez Ingeborg Nordmann)


11. Idee der Vermögen 

in ursprünglicher Vereinigung selbstgemäß, nicht als selbstbezogen (vermögen sie das Maß zu wahren und anzunehmen und zu erneuern)

nicht: noesis noeseos – Denken des Denkens ... Aristoteles bis Fichte und Hegel (Ich ist Ich – Negation der Negation)


12. Orientierung und Maß

Selbstsein

von sich her – Ebenbildlichkeit (per se esse existens)


Der Gemeinsinn des Politischen

Januar 2013

In Antizipation der Allgemeinheit, etwas als schön zu beurteilen, ergibt sich, wenn jenes als schön empfundene ein Gemeinschaftswerk des Politischen ist, eine Einstimmung in dieser Beurteilung nur dann, wenn das Urteil aus der Teilhabe eines jeden erfolgt, das ein jeder als harmonisch empfinden kann.

Wird ein solches Empfinden nicht schon von einem jeden geteilt, dann indiziert dies ein Unstimmigkeit, der gegenüber die antizipierte Harmonieempfindung auf der Idee der Gemeinschaft beruht und das Bewußtsein des gemeinsinnig Urteilenden zur Ermöglichung einer allgemeinen Einstimmung bestimmt.

Das antizipative Urteil des Gemeinsinns fordert zum Handeln auf, dadurch der reale, als nicht allein harmonisch von seinen Teilhabenden empfundene Handlungs- und Gemeinschaftszusammenhang der Idee der Gemeinschaft zur Entsprechung gebracht wird, also ein politischer Gestaltungswille sich durch die Idee im Verhältnis zur Erfahrung bestimmt; und dieser muß begleitet sein durch eine Mitteilung der Idee, die in der Mitteilung des antizipierenden Urteils von Gemeinschaft als schön, auch die Handlungsbestimmung übertragen muß – und dies ist nur mit der Darstellung des Vorbilds möglich, darin das Reich des Schönen anbricht. Es muß ein Reich des Geistigen dergestalt sein, daß sich mit der Übertragung der ideellen wie erfahrungsbezognene Handlungsbestimmung in Übernahme des Urteils des Gemeinsinns das Vermögen bildet, stellvertretende vorbildlich in Antizipation des Gemeinschaftlichen selbst zu handeln, so als wären schon alle in Gerechtigkeit verfasst und würden einander in ihren Vermögen, politische Gemeinschaft zu stiften, achten. Denn solches Achten bedingt die Einheit als politische Bildung in philosophischen Vermögen der Ideenorientierung für Urteilskraft und Handlungsausrichtung umfassend.

Da eine Teilhabe durch eigenes Vermöge zugrundeliegt, ist in der Antizipation des Gemeinsinns jedem eröffnet, die Bildungserfahrung zu machen, die den Auslöser des Geschmacksurteils im Verhältnis zum Gemeinschaftsgebildet aus Zugehörigkeit (als einem eigenen)

Mit ihr wird die Gerechtigkeit als das Seine zu tun vermögen für einen jeden faßlich mit der zweifachen Bedeutung des Seinigen, als Teil und als Teilhabend an der Einheit, daraus sich die Rede rechtfertigt, von der Gemeinschaft als eigener sprechen zu können. In der antizipativen Urteilsrede des Gemeinsinns stellt sich die Verantwortung aus der Besonderheit der arbeitsteiligen Teilhabe für das Ganze in seinem Zusammenstimmen dar, das für die Urteilskraft der Harmonie material vorausgestzt, aber nicht erfüllt war. Darum treten Idee und Vermögen in der Beurteilung auseinander und jene wird als Idee des Vermögens zum Maß für dieses im Erfahrungsbewußtsein einer nunmehr geschichtlcihen Handlungsbestimmung, als hineingestellt in die geschichtliche Lage von Gemeinschaften, die im Verhalten je ihrer sie bedingenden Vermögen nicht dem schon entsprehcehn, was in jeder Idee antizipiert ist.

Staat und Gottesstaat. Kommen des Reichs als himmlisch bestimmt (ideell im Geiste) auf Erden = Geschichte in Bestimmung von Heilsgeschichte: Übertragung in Nachfolge, durch geistige Kraft.


Kunstwerk des Politischen - ein Versuch

In der Einstimmung der Erkenntnisvermögen gegenüber dem als schön empfundenen Werk beruht der Gemensinn in seiner Antizipation der Allgemeingültigkeit der Empfindungsbeurteilung ohne Objektivität durch Gegenstandsgegebenheit der anschauenden Erscheinungsbestimmung durch Gegriffe auf den Vermögen der allen ansprechbaren Menschen zugehörenden Empfindungserkenntnis – von Vermögen, die im betrachtenden Empfinden aufgerufen werden.

Im Werk des Politischen sind aber die Vermögen aufgerufen, wie sie der Einzelne mit den Verantwortlichkeiten im Staat teilt: Mensch als Bürger und Person, deren Verhalten sich nicht auf Anschauungsgegebenheit darstellender Werke bezieht, sondern mit den betrachtend beurteilenden (auch der öffentlichen Rede und Kritik) die je eigenen Handlungsvermögen politischer Entscheidung in Teilhabe und Stellvertretung eingeschlossen sind.