Text Er-Mythos

Ich will dir indessen keine Erzählung des Alkinoos mitteilen, sondern von einem gar wackern Manne, nämlich Er, dem Sohn des Armenios, dem Geschlecht nach ein Pamphylier; welcher einst im Kriege tot geblieben war, und als nach zehn Tagen die Gebliebenen schon verwest aufgenommen wurden, ward er unversehrt aufgenommen und nach Hause gebracht, um bestattet zu werden. Als er aber am zwölften Tage auf dem Scheiterhaufen lag, lebte er wieder auf und berichtete sodann, was er dort gesehen. Er sagte aber, nachdem seine Seele ausgefahren, sei sie

S614c    mit vielen andern gewandelt und sie wären an einen wunderbaren Ort gekommen, wo in der Erde zwei aneinandergrenzende Spalten //V368// gewesen und am Himmel gleichfalls zwei andere ihnen gegenüber. Zwischen diesen seien Richter gesessen, welche, nachdem sie die Seelen durch ihren Richterspruch geschieden, den Gerechten befohlen hätten, den Weg rechts nach oben durch den Himmel einzuschlagen, nachdem sie ihnen Zeichen dessen, worüber sie gerichtet worden, vorne angehängt, den Ungerechten aber den Weg links nach unten, und auch diese hätten hinten Zeichen gehabt von allem, was

S614d    sie getan. Als nun auch er hinzugekommen, hätten sie ihm gesagt, er solle den Menschen ein Verkündiger des Dortigen sein, und hätten ihm geboten, alles an diesem Orte zu hören und zu schauen. Er habe nun dort gesehen, wie durch den einen jener Spalte im Himmel und in der Erde die Seelen, nachdem sie gerichtet worden, abgezogen seien, von den andern beiden aber seien, aus dem in der Erde Seelen hervorgekommen voller Schmutz und Staub, durch den andern hingegen seien

S614e    reine Seelen vom Himmel herabgestiegen. Und die Ankommenden hätten jedesmal geschienen, wie von einer langen Wanderung herzukommen, und sich, sehr zufrieden, daß sie auf diesen Matten verweilen konnten, wie zu einer festlichen Versammlung hingelagert. Die einander Bekannten haben sich dann begrüßt und die aus der Erde Kommenden von den andern das Dortige erforscht, und so auch die aus dem Himmel von jenen das Ihrige; und so haben sie einander erzählt, die

S615a    einen heulend und weinend, indem sie gedachten, welcherlei und wie Großes sie erlitten und gesehen während der unterirdischen Wanderung; die Wanderung aber sei tausendjährig. Die aus dem Himmel hingegen hätten von ihrem Wohlergehen erzählt und der unbegreiflichen Schönheit des dort zu Schauenden. Vielerlei nun davon erfordere viel Zeit zu erzählen, die Hauptsache aber sei dieses, daß sie jeder für alles, was sie jemals und wenn immer Ungerechtes getan, einzeln hätten Strafe geben müssen, zehnmal für jedes, nämlich immer wieder nach hundert

S615b    Jahren, als welches die Länge des menschlichen Lebens sei, damit sie so zehnfach die Buße für das Unrecht ablösten. So wenn einige vielfältigen Todes schuldig gewesen, weil sie Städte verraten oder Heere in die Knechtschaft gestürzt oder sonst großes Elend mitverschuldet hatten, so mußten sie von dem allen für jedes zehnfache Pein erdulden; hatten sie aber //V369// wiederum auch Wohltaten gespendet und sich gerecht und heilig erwiesen, so empfingen sie auch dafür nach demselben Maßstabe

S615c    den Preis. Die aber anlangend, welche nach ihrer Geburt nur kurze Zeit leben, sagte er anderes, so nicht nötig hier zu erwähnen. Für Ruchlosigkeit aber und Frömmigkeit gegen Götter sowohl als Eltern und für eigenhändigen Mord gebe es noch größeren Lohn. |

Denn er sei zugegen gewesen, als einer von dem anderen gefragt worden, wo denn Ardiaios der Große sei, welcher nämlich in einer Pamphylischen Stadt vor damals schon tausend Jahren als Tyrann geherrscht, nachdem er seinen betagten Vater

S615d    und älteren Bruder getötet und viel anderen Frevel verübt hatte, der Sage nach. Der Gefragte also habe gesagt, er ist nicht hier und wird wohl auch nicht hierher kommen. Denn auch dieses haben wir gesehen unter andern grauenvollen Gesichten. Als wir nahe an der Mündung waren im Begriff auszusteigen, nachdem wir das andere alles erduldet, so sahen wir plötzlich jenen mit anderen, von denen die meisten auch Tyrannen waren, nur einige darunter waren keine Staatsmänner, hatten aber sonst

S615e    Großes verbrochen. Als diese meinten eben auszusteigen, nahm die Öffnung sie nicht auf, sondern erhob großes Gebrülle, sooft einer von den so Unheilbaren in der Schlechtigkeit, oder der noch nicht hinreichend Strafe gegeben, versuchen wollte, heraufzusteigen. Und gleich waren auch, fuhr er fort, gewisse wilde Männer bei der Hand, ganz feurig anzusehen, welche den Ruf verstanden und einige davon besonders wegführten; dem Ardiaios aber und anderen banden sie

S616a    Hände und Füße und Kopf zusammen, warfen sie nieder und, nachdem sie sie mit Schlägen zugedeckt, zogen sie sie seitwärts vom Wege ab, wo sie sie mit Dornen schabten und den Vorbeigehenden jedesmal andeuteten, weshalb diese solches litten, und daß sie abgeführt würden, um in den Tartaros geworfen zu werden. Und so sei denn, sagte er, nachdem ihnen soviel und mancherlei Furchtbares begegnet, diese Furcht die schlimmste von allen gewesen für jeden, daß, wenn er hinaufsteigen wollte, der Schlund brüllen möchte, und mit der größten Zufriedenheit seien sie dann hinaufgestiegen, wenn er geschwiegen habe. Solcherlei also seien die Büßungen und Strafen,

S616b    und ebenso die Erquickungen, //V370// jenen als Gegenstück entsprechend. Nachdem aber jedesmal denen auf der Wiese sieben Tage verstrichen, müßten sie am achten aufbrechen und wandern, und kämen den vierten Tag hin, wo man von oben herab ein gerades Licht wie eine Säule über den ganzen Himmel und die Erde verbreitet sehe, am meisten dem Regenbogen vergleichbar aber glänzender und reiner. In dieses kämen sie eine Tagereise weiter gegangen hinein, und sähen dort

S616c    mitten in dem Lichte vom Himmel her seine Enden an diesen Bändern ausgespannt; denn dieses Licht sei das Band des Himmels, welches wie die Streben an den großen Schiffen den ganzen Umfang zusammenhält. An diesen Enden aber sei die Spindel der Notwendigkeit befestigt, vermittelst deren alle Sphären in Umschwung gesetzt werden, und an dieser sei die Stange und der Haken von Stahl, die Wulst aber gemischt aus diesem und anderen Arten.

S616d    Beschaffen aber sei diese Wulst folgendermaßen. Die Gestalt, so wie hier; aus dem aber, was er sagte, war abzunehmen, sie sei so, als wenn in einer großen und durchweg ausgehöhlten Wulst eine andere ebensolche kleinere eingepaßt wäre, wie man Schachteln hat, die so ineinander passen, und ebenso eine andere dritte und eine vierte und noch vier andere. Denn acht

S616e    Wülste seien es insgesamt, welche ineinander liegend ihre Ränder von oben her als Kreise zeigen, um die Stange her aber nur eine zusammenhängende Oberfläche einer Wulst bilden; diese aber sei durch die achte mitten durchgetrieben. Die erste und äußerste Wulst nun habe auch den breitesten Kreis des Randes, der zweite sei der der sechsten, der dritte der der vierten, der vierte der der achten, der fünfte der der siebenten, der sechste der der fünften, der siebente der der dritten, der achte der der zweiten. Und der der größten sei bunt, der der siebenten der glänzendste, der

S617a    der achten erhalte seine Farbe von der Beleuchtung der siebenten, der der zweiten und fünften seien einander sehr ähnlich gelblicher als jene, der dritte habe die weißeste Farbe, der vierte sei rötlich, der zweite aber übertreffe an Weiße den sechsten. Indem nun die Spindel gedreht werde, so kreise sie zwar ganz immer in demselben Schwunge, in dem ganzen Umschwingenden aber bewegten sich die sieben inneren Kreise langsam in einem dem Ganzen entgegengesetzten Schwung. //V371// Von diesen gehe der achte am schnellsten; auf ihn folgen der Schnelle nach, zugleich

S617b    miteinander der siebente, sechste und fünfte; als der dritte seinem Schwunge nach kreise, wie es ihnen geschienen, der vierte, als vierter aber der dritte und als fünfter der zweite. Gedreht aber werde die Spindel im Schoße der Notwendigkeit. Auf den Kreisen derselben aber säßen oben auf jeglichem eine mitumschwingende Sirene, eine Stimme von sich gebend, jede immer den nämlichen Ton, aus allen achten aber insgesamt klänge dann ein Wohllaut zusammen. Drei andere aber,

S617c    in gleicher Entfernung rings her jede auf einem Sessel sitzend, die weiß bekleideten am Haupte bekränzten Töchter der Notwendigkeit, die Moiren Lachesis, Klotho und Atropos, sängen zu der Harmonie der Sirenen, und zwar Lachesis das Geschehene, Klotho das Gegenwärtige, Atropos aber das Bevorstehende. Und Klotho berühre von Zeit zu Zeit mit ihrer Rechten den äußeren Umkreis der Spindel und drehe sie mit, Atropos aber ebenso die inneren mit der Linken, Lachesis aber

S617d    berühre mit beiden abwechselnd beides, das Äußere und Innere. Sie nun, als sie angekommen, haben sie sogleich gemußt zur Lachesis gehen. Ein Prophet aber habe sie zuerst der Ordnung nach auseinandergestellt, dann aus der Lachesis Schoß Lose genommen und Grundrisse von Lebensweisen, dann sei er auf eine hohe Bühne gestiegen und habe gesagt:

Dies ist die Tochter der Notwendigkeit, der jungfräulichen Lachesis Rede. Eintägige Seelen! Ein neuer todbringender Umlauf beginnt für das sterbliche Geschlecht.

S617e    Nicht euch wird der Dämon erlosen, sondern ihr werdet den Dämon wählen. Wer aber zuerst gelost hat, wähle zuerst die Lebensbahn, in welcher er dann notwendig verharren wird. Die Tugend ist herrenlos, von welcher, je nachdem jeglicher sie ehrt oder geringschätzt, er auch mehr oder minder haben wird. Die Schuld ist des Wählenden; Gott ist schuldlos.

Dieses gesprochen habe er die Lose unter alle hingeworfen; und jeder habe das ihm Zufallende aufgehoben, nur er nicht, ihm habe er es nicht verstattet. Wer es aber nun aufgehoben, dem sei kund geworden, die wievielste Stelle er getroffen habe.

S618a    Gleich nach diesem nun habe er die Umrisse der Lebensweisen vor ihnen auf dem Boden ausgebreitet in weit größerer Anzahl als //V372// die der Anwesenden. Deren nun seien sehr vielerlei, die Lebensweisen aller Tiere nämlich und auch die menschlichen insgesamt. Darunter nun seien Zwingherrschaften gewesen, einige lebenslänglich, andere mitten inne zugrunde gehend und in Armut, Verweisung und Dürftigkeit sich endigend; ebenso auch Lebensweisen wohl angesehener Männer, die es teils ihrer Persönlichkeit wegen waren, der Schönheit halber oder sonst wegen körperlicher Stärke

S618b    und Kampftüchtigkeit, andere aber ihrer Abkunft und vorelterlicher Tugenden wegen, und auch unberühmter ebenso, gleichermaßen auch von Frauen. Eine Rangordnung der Seelen aber sei nicht dabei gewesen, weil notwendig, welche eine andere Lebensweise wählt, auch eine andere wird. Alles andere sei untereinander und mit Reichtum und Armut, Krankheit oder Gesundheit gemischt; einiges auch zwischen diesem mitten inne. Hierauf nun eben, o lieber Glaukon, beruht alles für den Menschen, und deshalb ist vorzüglich

S618c    dafür zu sorgen, daß jeder von uns mit Hintansetzung aller anderen Kenntnisse nur dieser Kenntnis nachspüre und ihr Lehrling werde, wie einer dahin komme zu erfahren und aufzufinden, wer ihn dessen fähig und kundig machen könne, gute und schlechte Lebensweise unterscheidend, aus allen vorliegenden immer und überall die beste auszuwählen, alles eben Gesagte und untereinander Zusammengestellte und Verglichene, was es zur Tüchtigkeit des Lebens beitrage, wohl in Rechnung bringend, und zu wissen, was zum Beispiel Schönheit wert ist mit Armut oder Reichtum gemischt und

S618d    bei welcher Beschaffenheit der Seele sie Gutes oder Schlimmes bewirkt, und was gute Abkunft und schlechte, eingezogenes Leben und staatsmännisches, Macht und Ohnmacht, Vielwisserei und Unkunde, und was alles dergleichen der Seele von Natur Anhaftendes oder Erworbenes miteinander vermischt bewirken, so daß man aus allen insgesamt zusammennehmend auf die Natur der Seele hinsehend die schlechtere und die bessere Lebensweise scheiden könne,

S618e    die schlechtere diejenige nennend, welche die Seele dahin bringen wird ungerecht zu werden, die bessere aber, welche sie gerecht macht, um alles andere aber sich unbekümmert lassen; denn wir haben gesehen, daß für dieses Leben und für das nach dem Tode dieses die beste Wahl ist. Und eisenfest

S619a    auf //V373// dieser Meinung haltend muß man in die Unterwelt gehen, um auch dort nicht geblendet zu werden durch Reichtümer und solcherlei Übel, und nicht, indem man auf Tyranneien und andere dergleichen Taten verfällt, viel unheilbares Übel stifte und selbst noch größeres erleide, sondern vielmehr verstehe in Beziehung auf dergleichen ein mittleres Leben zu wählen und sich vor dem Übermäßigen nach beiden Seiten hin zu hüten, sowohl in diesem Leben nach Möglichkeit als auch in jedem folgenden. Denn so

S619b    wird der Mensch am glückseligsten.

Daher denn auch damals der Bote von dorther verkündet, der Prophet habe also gesagt: Auch dem letzten, welcher hinzunaht, wenn er mit Vernunft gewählt hat und sich tüchtig hält, liegt ein vergnügliches Leben bereit, kein schlechtes. Darum sei weder, der die Wahl beginnt, sorglos, noch der sie beschließt, mutlos.

Nachdem jener nun dies gesprochen, sagte er, sei der, welcher das erste Los gezogen, sogleich darauf zugegangen und habe sich die größte Zwingherrschaft erwählt; aus Torheit und Gierigkeit aber habe er gewählt ohne alles genau zu betrachten, und so

S619c    sei ihm das darin enthaltene Geschick, seine eigenen Kinder zu verzehren und anderes Unheil entgangen. Nachdem er es nun mit Muße betrachtet, habe er auf sich losgeschlagen und seine Wahl bejammert, nicht beachtend, was der Prophet vorhergesagt. Denn er habe nicht sich selbst dieses Unheils Schuld beigelegt, sondern das Glück und die Götter und alles eher als sich selbst angeklagt. Er sei aber einer von den aus dem Himmel Kommenden gewesen, der in einer wohlgeordneten Verfassung sein erstes Leben verlebt, und nur durch Gewöhnung

S619d    ohne Philosophie an der Tugend teilgehabt. So daß er auch sagte, es hingen sich an solcherlei Dinge nicht wenigere von den aus dem Himmel Gekommenen, weil sie nämlich in Mühseligkeiten unerfahren seien, wohingegen von denen aus der Erde gar viele, weil sie selbst Mühseligkeiten genug gehabt und auch andere darin gesehen, ihre Wahl nicht so auf den ersten Anlauf machten. Daher denn, sowie freilich auch durch den Zufall des Loses, den meisten Seelen ein Wechsel entstehe zwischen Übel und Gutem. Denn wenn jemand jedesmal, wenn er in diesem Leben ankäme, sich der Weisheit wahrhaft befleißige,

S619e    und ihm dann das Los zur Wahl nur nicht unter //V374// den allerletzten falle, so würde er wohl dem dort Angekündigten zufolge nicht nur hier glückselig sein, sondern auch seinen Weg von hier dorthin und von dorther zurück nicht unterirdisch und rauh zurücklegen, sondern glatt und himmlisch. |

Denn dies Schauspiel sei wert gewesen es zu sehen, wie

S620a    die Seelen jede für sich ihre Lebensweise wählten; denn es sei jämmerlich zu sehen gewesen, und lächerlich und wunderbar. Die meisten nämlich hätten der Erfahrung ihres früheren Lebens gemäß gewählt. So habe er gesehen, daß die Seele, die einmal des Orpheus gewesen, ein Schwanenleben gewählt, indem sie aus Haß gegen das weibliche Geschlecht, wegen des von ihm erlittenen Todes, nicht habe gewollt vom Weibe geboren werden; und die des Thamyris habe eine Nachtigall gewählt. So habe auch ein Schwan sich durch seine Wahl zum menschlichen Leben umgewendet, und ebenso andere tonkünstlerische Tiere, wie leicht zu denken.

S620b    Eine Seele, welche gelost, habe sich das Leben eines Löwen gewählt, und dies sei die des telamonischen Aias gewesen, welche eingedenk des Spruches wegen der Waffen vermeiden wollte ein Mensch zu werden. Nächstdem die des Agamemnon, und auch diese habe aus Haß gegen das menschliche Geschlecht wegen des Erlittenen das Leben eines Adlers eingetauscht. Mitten inne habe auch die Seele der Atalante gelost, und da sie große Ehrenbezeigungen für einen kampfkünstlerischen Mann gefunden, habe sie nicht widerstehen können, sondern dieses gewählt. Nach

S620c    dieser habe er die des Panopier Epeios sich in die Natur einer kunstreichen Frau begeben sehen, und weiter unter den letzten den Possenreißer Thersites einen Affen anziehen. Zufällig sei die Seele des Odysseus durch das Los die letzte von allen gewesen, und so hinzugegangen um zu wählen. Da sie sich aber im Angedenken der früheren Mühen von allem Ehrgeiz erholt, so sei sie lange Zeit umhergegangen, um eines von Staatsgeschäften entfernten Mannes Leben zu suchen, und mit Mühe habe sie es von allen andern übersehen irgendwo liegen gefunden,

S620d    und als sie es gesehen, habe sie gesagt, sie würde ebenso wie jetzt gehandelt haben, auch wenn sie das erste Los gezogen hätte, und habe mit Freuden dieses Leben gewählt. Gleichermaßen seien nun auch von den Tieren welche zu den Menschen //V375// übergegangen und eine Art in die andere, indem ungerechte sich in wilde verwandelt, gerechte aber in zahme, und allerlei dergleichen Wechsel seien vorgekommen. |

Nachdem nun aber alle Seelen ihre Lebensweisen gewählt, seien sie nach der Ordnung, wie sie gelost, zur Lachesis hinzugetreten, und jene habe jedem den Dämon, den er sich gewählt, zum Hüter

S620e    seines Lebens und Vollstrecker des Gewählten mitgesendet. Dieser nun habe sie zunächst zur Klotho, unter deren Hand, wie sie eben den Schwung bewirkend an der Spindel drehte, geführt, um das von jedem gewählte Geschick zu befestigen; und nachdem er diese berührt, habe er sie zur Spinnerei der Atropos geführt, um das Angesponnene unveränderlich zu machen. Von da sei er ohne sich umzuwenden an der

S621a    Notwendigkeit Thron getreten, und durch diesen hindurchgegangen, nachdem auch die andern insgesamt dies getan, seien sie dann insgesamt durch furchtbare Hitze und Qualen auf das Feld der Vergessenheit gekommen, denn es sei entblößt von Bäumen und allem, was die Erde trägt. Dort haben sie sich, da der Abend schon herangekommen, an dem Flusse Sorglos gelagert, dessen Wasser kein Gefäß halten könne. Ein gewisses Maß nun von diesem Wasser sei jedem notwendig zu trinken; die aber durch Vernunft nicht bewahrt würden, tränken über das Maß, und wie einer getrunken habe,

S621b    vergesse er alles. Nachdem sie sich nun zur Ruhe gelegt und es Mitternacht geworden, habe sich Ungewitter und Erdbeben erhoben, und plötzlich seien sie dann hüpfend wie Sterne der eine hierhin, der andere dorthin getrieben worden, um eben ins Leben zu treten. Er selbst habe des Wassers zwar nicht trinken dürfen, wie aber und auf welche Weise er wieder zu seinem Leibe gekommen, wisse er doch nicht, sondern nur, daß er plötzlich des Morgens aufschauend, sich schon auf dem Scheiterhaufen liegend gefunden.

 

Und diese Rede, o Glaukon, ist erhalten worden und nicht verloren gegangen,

S621c    und kann auch uns erhalten, wenn wir ihr folgen; und wir werden dann über den Fluß der Lethe gut hinüberkommen und unsere Seele nicht beflecken. Sondern wenn es nach mir geht, wollen wir, in der Überzeugung, die Seele sei unsterblich und vermöge alles Übel und alles Gute zu ertragen, uns immer an den oberen Weg //V376// halten und der Gerechtigkeit mit Vernünftigkeit auf alle Weise nachtrachten, damit wir uns selbst und den Göttern lieb seien, sowohl während wir noch hier weilen, als auch, wenn wir den Preis

S621d    dafür davontragen, den wir uns wie die Sieger von allen Seiten umher einholen, und hier sowohl als auch auf der tausendjährigen Wanderung, von der wir eben erzählt, uns wohl befinden.